Heißt Distanz immer Kontaktabbruch?
In den Kommentaren zur Nachtcafe-Sendung kam die Frage auf, wie ich zum Thema Beziehungsabbruch bei familiären Konflikten stehe und warum ich nicht prinzipiell zum „Ausstieg“ aus der Familie rate. Das ist ein wichtiges Thema, das ich hier noch einmal aufgreifen möchte.
Im Buch „Das schwarze Schaf“ habe ich als Ziel jedes Menschen, der Opfer innerfamiliärer Benachteiligung geworden ist, die Distanz angeführt. Darunter verstehe ich Abstand von allen Menschen innerhalb und außerhalb der Familie, die mir schaden und, in meinen Augen noch wichtiger, Distanz zu eigenen Einstellungen und Bewertungen.
Ich darf mich hier einmal selbst zitieren: „Abkehr bedeutet nicht, diesen Menschen den Rücken zu kehren und sie zu meiden. Das kann in Einzelfällen gut und richtig sein, aber in der Regel empfiehlt es sich, die „eigene Stellung zu halten“ , also im Kontakt mit diesen Menschen zu bleiben und sich gegen Benachteiligung zu wehren.“ (S. 238 im Buch, 3.Auflage)
Im Laufe der Jahre, die seit der Veröffentlichung des Buches vergangen sind, habe ich sehr viele schwarze Schafe kennengelernt, die auf unterschiedliche Weise diese Distanz hergestellt haben. Es waren auch viele darunter, die den Kontaktabbruch mit der Familie als einziges Mittel gesehen haben, mehr als ich zuvor gedacht hatte.
Aber mein obiges Zitat würde ich trotzdem wieder so schreiben.
In sehr vielen Fällen ist der Kontaktabbruch nicht das geeignete Mittel, um das Schicksal als schwarzes Schaf zu bewältigen.
Nur ein Beispiel dazu: Nach einem Leben als benachteiligtes Familienmitglied kommt der große Hammer mit Enterbung und Verstoßen aus der Familiengemeinschaft zu einem Zeitpunkt, wenn das schwarze Schaf bereits Kinder hat. Diese Kinder haben regelmäßigen Kontakt mit den Großeltern. Wie soll das schwarze Schaf sich nun verhalten? Den Kindern den Umgang mit den Großeltern verbieten? Eine überaus knifflige Situation, die ich mehrere Male miterlebt habe. Die in dieser Konstellation von den Betroffenen gewählte Art der Distanz war nie der Kontaktabbruch, was ich gut nachvollziehen konnte.
Aber auch in allen anderen, nicht so speziellen Situationen wählen viele schwarze Schafe eine Form der inneren Distanz, die einen Kontakt mit den Eltern und/ oder Geschwistern, wenn auch meist in deutlich reduzierter Frequenz, noch möglich macht. Die Gründe für diesen Weg sind vielfältig, aber meist verstehbar. Häufig habe ich auch erlebt, dass ein schwarzes Schaf zunächst einmal komplett die Beziehung abgebrochen, aber nach einiger Zeit in deutlich distanzierterer Weise wieder aufgenommen hat.
Ich rate schwarzen Schafen nicht zum Kontaktabbruch.
Ich rate schwarzen Schafen aber auch nicht, den Kontakt nicht abzubrechen.
Wann immer ich beteiligt bin, rate ich dazu, sich keinen Weg von vorne herein zu verbieten, sondern die jeweils für den einzelnen am besten passende Lösung zu suchen.
Soviel zum Thema „schwarzes Schaf“.
„Familie“ geht weit über das Thema „schwarze Schafe“ hinaus
Nun behandle ich aber nicht nur schwarze Schafe, sondern habe ein wesentlich weiter gefasstes Betätigungsfeld in meiner Rolle als Psychiater und Psychotherapeut.
Was Kontaktabbrüche in der Familie allgemein betrifft, habe ich schon alles gesehen: Wichtige und erforderliche Beziehungspausen, die unter Umständen ein Leben lang andauern. Nach Jahren der Distanz erfolgte und sinnvolle Wiederannäherung. Ich kenne Beziehungsabbrüche aus Rache, zur Bestrafung und vor dem Hintergrund eines schlechten Einflusses Dritter auf den Kontaktabbrecher. Mir sind Fälle bekannt, in denen jemand sich als schwarzes Schaf bezeichnet, aber durch sein Verhalten bewirkt hat, dass keiner in der Familie mehr etwas mit ihr oder ihm zu tun haben will.
Kontaktabbrüche können gut oder schlecht, sinnvoll oder leichtfertig, unmotiviert, grausam, bestrafend oder die einzige Rettung sein.
Aus Sicht eines schwarzen Schafes, das für sich den Weg des Beziehungsabbruchs wählt, mag dies befremdlich erscheinen. Aber niemand sollte sein eigenes Schicksal als Maßstab für allgemeine Handlungsanweisungen verstehen. Und auch wenn die eine oder der andere die Welt ausschließlich durch die eigenen Augen sehen will, so mag dies für sie oder ihn in Ordnung sein.
Ich selbst kann mir diese prinzipielle Einengung auf richtig/ falsch oder gut/ schlecht nicht erlauben und sie entspricht auch nicht meiner Einstellung. So einfach gestrickt ist das Leben nicht. Als Psychiater (und als solcher saß ich im Nachtcafe) muss ich mir meinen Weit- und Überblick behalten, der sich zum einen aus meiner Ausbildung und zum anderen aus meiner Erfahrung ergibt.
Das bedeutet nun nicht, dass es nicht für viele schwarze Schafe die beste und einzige Lösung ist, die Beziehung und den Kontakt zu ihrer Familie abzubrechen. Hinter diesen Menschen stehe ich genauso wie hinter allen, die andere Wege gehen und wieder anderen, die mit dem Thema „Familie“ ganz andere Probleme haben.
Peter Teuschel
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